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Eine Frage des Gesellschaftsmodells

Guillaume Habert ist Inhaber des Lehrstuhls für Nachhaltiges Bauen an der ETH Zürich. Im Interview spricht er darüber, wie der Bausektor seine hohen CO2-Emissionen reduzieren kann.

Klimafreundliche Alternative: Bauen mit vorfabrizierten Elementen aus Stroh.
Klimafreundliche Alternative: Bauen mit vorfabrizierten Elementen aus Stroh.

Guillaume Habert, nehmen wir einmal an, ich möchte ein Haus bauen, das in Bau und Betrieb klimaneutral ist. Ist das – aus heutiger Sicht – überhaupt möglich?
Einfach wird es nicht. Etwa 30 Prozent der CO2-Emissionen lassen sich relativ einfach und mit geringen Mehrkosten einsparen. 50 Prozent sind auch möglich, aber das wird schon deutlich aufwendiger. Mehr als 50 Prozent – das ist heute eine echte Herausforderung. Klar ist: So wie wir heute bauen, emittieren wir zu viel CO2. Also müssen wir das Kohlendioxid reduzieren. In einem zweiten Schritt müssen wir uns dann fragen: So klimafreundlich wie möglich, ist das klimafreundlich genug?

Was können Bauherren schon heute tun, um ihren CO2-Fussabdruck so gering wie möglich zu halten? 
Es gibt viele relativ einfache Möglichkeiten: Man kann den Materialeinsatz reduzieren. Man kann effizientere Verfahren anwenden. Oder man kann das Material wechseln. 
Zum Beispiel Beton: Ich kann weniger Beton verbauen, indem ich ein Gebäude anders konstruiere. Wenn ich zum Beispiel eine Decke nicht flach, sondern kuppelförmig baue, brauche ich viel weniger Material. Mein Kollege, ETH-Professor Phillipe Block, macht so etwas mit seinem Start-up Vaulted AG. Ich kann auch Beton verwenden, der klimafreundlicheren Zement enthält. An der EPFL wird zum Beispiel ein alternativer Zement entwickelt. Er ist genauso leistungsfähig wie herkömmlicher Zement, verursacht aber 30 Prozent weniger CO2-Emissionen. Bei den Kosten macht das keinen grossen Unterschied.

 

Wenn ich beide Massnahmen kombiniere, verbessert sich die CO2-Bilanz bereits um die Hälfte – ohne radikale Innovation. Es ist immer noch ein Gebäude aus Beton.

«30 Prozent lassen sich einfach einsparen. 50 Prozent sind auch möglich, mehr ist eine echte Herausforderung.»

Warum ist das nicht schon längst Standard in der Bauindustrie?
Das Problem ist, dass wir so bauen, wie wir immer gebaut haben. Es gibt Alternativen, aber die Bauherren fragen nicht danach. Und die Architekten und Ingenieure bieten sie auch nicht von sich aus an. Zum Beispiel Recyclingbeton: Der Architekt entwirft eine Betonwand. Dann erstellt der Ingenieur die Spezifikationen und schickt sie an die Betonfirma. Diese liefert den Beton auf die Baustelle. Wenn in diesem Prozess niemand sagt, dass es Recyclingbeton sein soll, dann wird auch kein Recyclingbeton geliefert. Verlangt der Kunde dagegen Recyclingbeton, wird er auch verwendet.

Wie kann man Anreize schaffen, damit klimafreundlichere Materialien zum Einsatz kommen?
Das funktioniert wahrscheinlich nur Top-Down. Der Gesetzgeber muss entsprechende Standards vorgeben. In einigen Ländern, zum Beispiel in Frankreich und den Niederlanden, gibt es inzwischen Zielvorgaben, wie viel Kohlendioxid pro gebautem Quadratmeter emittiert werden darf. Wenn es solche klaren Vorgaben gibt, weiss die Industrie: «Mein Verfahren funktioniert noch fünf oder vielleicht zehn Jahre. Danach muss ich etwas Neues anbieten, um die Vorgaben zu erfüllen.» In der Schweiz ist das bisher alles freiwillig. Der Kanton Genf will nun als Erster Zielvorgaben machen, zunächst für öffentliche Gebäude. Heute liegen wir mit unseren Gebäuden – Bau und Betrieb zusammengerechnet – bei rund 10 kg CO2 pro m2 und Jahr. Eine Halbierung auf 5 kg/m2/a ist möglich mit der Technologie, die wir heute haben.

ETH-Professor Habert: «Wenn wir komplett auf null kommen wollen, dann ist das weniger eine Frage der Technologie als eine Frage des Gesellschaftsmodells.» | © ETHZ
ETH-Professor Habert: «Wenn wir komplett auf null kommen wollen, dann ist das weniger eine Frage der Technologie als eine Frage des Gesellschaftsmodells.»

Aber fünf ist immer noch zu viel, wenn das Ziel Netto-Null ist ...
Richtig, und es gibt viele Möglichkeiten, den CO2-Ausstoss weiter zu reduzieren. Die erste ist, nicht oder zumindest weniger zu bauen: Wenn ich auf einen Neubau verzichte und stattdessen ein bestehendes Gebäude erweitere, muss ich weniger bauen und habe trotzdem den gleichen Nutzen. Ich erhalte bestehende Grundstrukturen und baue etwas hinzu. Damit kann ich viel CO2 einsparen. Wir sollten uns fragen, ob wir wirklich so viel Fläche brauchen. In den 1980er-Jahren lebte eine Person in der Schweiz auf rund 34 Quadratmetern, heute sind es etwa 46 Quadratmeter. Wir können die vorhandene Fläche auch effizienter nutzen. Schauen Sie sich zum Beispiel die Gänge in dem Gebäude an, in dem wir hier sitzen. Die sind riesig. Die Fläche könnte man vielleicht smarter nutzen.

 

Dann die Kreislaufwirtschaft, die Wiederverwendung von Materialien oder Bauteilen. Zum Beispiel Fenster: Brauche ich neue Fenster oder kann ich welche aus einem alten Gebäude verwenden? Für alles, was schon da ist, gilt: Die Emissionen sind bereits geschehen. Wiederverwenden erzeugt fast kein CO2.

Aber wird das nicht immer eine Nische bleiben? Werden sich die Planer daran orientieren, was es an gebrauchten Komponenten gibt?
Wir könnten viel mehr wiederverwenden, als wir es heute tun. Das funktioniert natürlich nur, wenn ich kein Wachstum habe. Ich baue ein altes Gebäude ab und ein neues auf. Aber wenn ich neue Flächen hinzufüge, brauche ich natürlich auch neues Material und neue Bauteile.

 

Wenn wir gleichzeitig den Flächenverbrauch reduzieren und die Flächen intelligent nutzen, dann ist das zirkuläre Bauen mehr als eine Nische. Wir müssen verschiedene Strategien effektiv kombinieren. Angenommen, ich möchte 100 m2 bauen. Dann ist die erste Frage: Reichen nicht auch 80 m2? Wenn ich dann schon 50 m2 habe, muss ich nur noch 30 m2 zubauen. Wenn ich dann beim Bau dieser 30 m2 die Hälfte des CO2 einspare, denn emittiere ich nur noch so viel Kohlendioxid, wie 15 m2 in konventioneller Bauweise verursachen. Im Vergleich zum 100-m2-Neubau reduziere ich meinen Fussabdruck also um 85 Prozent. Wenn ich aber nur einen Teil dieser Möglichkeiten nutze, stosse ich schnell an meine Grenzen.

Aber auch damit bin ich noch nicht bei null ...
Nein. Der letzte Schritt ist der Einsatz von CO2-negativen Materialien. Dann kann ich die letzten 15 Prozent einsparen. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine ist, die Emissionen ausserhalb des Bausektors zu kompensieren, über Carbon Capture and Storage. Wir bezahlen dafür, dass die entsprechende Menge CO2 aus der Luft gefiltert und unterirdisch gelagert wird. Oder wir machen das in unseren Gebäuden selbst, indem wir Baustoffe verwenden, die CO2-negativ sind. Zum Beispiel kann man das Kohlendioxid mineralisieren und in Ziegel oder Beton «einlagern». Oder man verwendet biobasierte Materialien, in denen dann biogener Kohlenstoff gespeichert wird. Dann stellt sich aber gleichzeitig auch die Frage, wie unser Wirtschaftssystem und unsere Gesellschaft aufgebaut sind.

Das müssen Sie näher erklären.
Die Bauwirtschaft funktioniert heute nach dem Prinzip der zentralisierten Massenproduktion. Materialien und Bauteile werden zentral und kapitalintensiv hergestellt und über zum Teil lange Transportwege zu den Baustellen gebracht. Damit kompatibel ist der Ausgleich der CO2-Emissionen durch Carbon Capture and Storage. Die Industrie könnte sich aber auch transformieren, hin zu kleinräumigeren, lokalen Strukturen. Wenn wir an das Bauen mit Lehm, mit biobasierten Materialien oder auch Holz denken. Das kann man nicht zentral herstellen. Das Gleiche gilt beim Wiederverwenden von Material und Bauteilen.

 

Wenn wir komplett auf null kommen wollen, dann ist das weniger eine Frage der Technologie als eine Frage des Gesellschaftsmodells. Sind wir eher technozentriert? Dann müssen wir die neuen Technologien entwickeln und bezahlen. Aber wir bleiben auf dem Pfad, auf dem wir uns jetzt schon bewegen. Wir müssen unsere Gesellschaft nicht neu organisieren. Die Alternative wäre ein Modell, das mehr auf menschliche Arbeit, Interaktion und lokale Lösungen setzt. Dann muss ich für die Menschen bezahlen und nicht für die Technologie. Aber in kleineren, lokalen Strukturen ist es schwieriger, Skaleneffekte zu erzielen. Es bleibt arbeitsintensiver und damit teurer.

Ist eine Kombination beider Modelle oder ein Mittelweg denkbar?
Ja, es gibt nicht nur Schwarz oder Weiss. Dazwischen existieren alle denkbaren Grautöne. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für einen Kompromiss: die Firma Ecococon. Die stellt vorfabrizierte Bauelemente aus Stroh her. Biobasiertes Material, extrem CO2-arm. Aber es wird in einem Werk in der Slowakei mit Robotern vorgefertigt und dann über weite Strecken geliefert. Das Geschäftsmodell ist also sehr konzentriert, aber mit einem radikal neuen Material.

Aber selbst wenn sich die Gesellschaft langfristig in die von Ihnen beschriebene Richtung bewegen will – für Netto-Null im Jahr 2050 dürfte das kaum eine Rolle spielen ...
2050 ist morgen. Die Frage ist also: Was tun wir jetzt mit unseren vorhandenen Technologien und innerhalb unseres bestehenden Gesellschaftssystems? Wenn wir null erreichen wollen, müssen wir in den nächsten zehn Jahren die Hälfte einsparen und dann bis 2050 die zweite Hälfte. Zugegeben, die zweite Hälfte ist superschwer. Aber 50 Prozent in zehn Jahren, das ist machbar. Und es würde uns Zeit geben, unsere Ideen und Ansätze weiterzuentwickeln.

Tut die Politik genug? Gerade in der liberalen Schweiz tun wir uns schwer mit ordnungspolitischen Vorgaben ...
Es ist klar, dass wir nicht genug tun. Sonst hätten wir diese Diskussion nicht. Wir haben lange geschlafen, aber ich glaube, dass sich das jetzt schneller ändern könnte, als viele denken. Mein Verständnis ist, dass der Bund mit der Aussage «Wir wollen Netto-Null erreichen» das Ziel vorgegeben hat. Aber es gibt nicht wirklich eine Top-Down-Strategie. Der SIA entwickelt die Norm 390/1, darin wird ein Weg zur Reduktion des CO2-Footprints von Gebäuden vorgegeben. Der Flaschenhals in der Schweiz sind die Kantone. Dort fällt letztendlich die Entscheidung über die Energieeffizienz von Gebäuden.

Welche Rolle spielen Bildung und Ausbildung? 
Die Studierenden erwarten, dass wir Themen wie Klimaschutz und Nachhaltigkeit in der Lehre aufgreifen und der Dringlichkeit des Themas gerecht werden. Aber auch diejenigen, die bereits im Beruf stehen, müssen umdenken: Architekten, Ingenieure, Handwerker, Behörden. Und die Portfoliomanager, bei denen ist das Thema noch nicht angekommen. Das wird sich erst ändern, wenn die Portfoliomanager über die grauen Emissionen ihrer Gebäudeparks nachdenken und Gebäude mit Emissionen oder ohne Kreislaufwirtschaft als Stranded Assets betrachten. 

Zürich 16.10.2024
Beitrag von: Interview: Hendrik Thielemann
Bildquelle: ETHZ

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