Bröckelnde Brücken: Deutschland lässt einstürzen – die Schweiz investiert
«Schrottrepublik Deutschland» titelte das Nachrichtenmagazin «Focus» im Juli einen Artikel über den Zustand der Verkehrsinfrastruktur in unserem nördlichen Nachbarland. Zwei Monate später stürzte in Dresden die Carolabrücke ein. Die Schweiz lässt sich den Unterhalt ihrer Infrastruktur deutlich mehr kosten als Deutschland, und das zahlt sich aus. Dennoch gibt es Herausforderungen.
Böses Erwachen an einem Mittwochmorgen im September für die Menschen in Dresden: Über Nacht war die Carolabrücke im Zentrum der deutschen Stadt teilweise eingestürzt. Auch wenn glücklicherweise keine Menschen zu Schaden kamen, weckte der Einsturz Erinnerungen an die Katastrophe vor sechs Jahren in Genua. Damals waren beim Einsturz der Morandi-Brücke 43 Menschen ums Leben gekommen.
Der Untersuchungsbericht zum Einsturz der Carolabrücke soll noch in diesem Jahr vorgelegt werden. Der mit der Untersuchung beauftragte Bauingenieur Steffen Marx äusserte sich jedoch bereits vorab zu den Ursachen: Der Einsturz sei vor allem auf Korrosion zurückzuführen, so Marx. Ein Grossteil der Spannglieder sei stark vorgeschädigt gewesen. Zudem habe die schnelle Abkühlung der Brücke durch einen Wetterumschwung eine Rolle gespielt. Die dadurch entstandenen Spannungen hätten der maroden Brücke den Rest gegeben.
Wie der Einsturz in Dresden wäre auch die Tragödie in Genua vermeidbar gewesen. Laut Untersuchungsberichten reichte die Fehlerkette von Konstruktionsmängeln über unzureichende Wartung bis hin zum Ignorieren oder Herunterspielen von Warnzeichen. Die juristische Aufarbeitung ist bis heute nicht abgeschlossen.
In der Schweiz nicht zu erwarten
Brücken, Tunnel, Staudämme und andere Infrastrukturbauten sind Symbole der Ingenieurskunst. Die beiden Einstürze verdeutlichen auf drastische Weise, dass Konstruktion, Unterhalt und Überwachung solcher Bauten eine Herausforderung darstellen. Selbst dann, wenn nicht so geschlampt wird wie in Dresden und Genua.
Glaubt man dem Infrastrukturexperten der ETH Zürich, Prof. Bryan Adey, sind solche Ereignisse in der Schweiz nicht zu erwarten. Im Focus-Artikel erklärt Adey, in der Schweiz habe «das Parlament erkannt, dass Investitionen in unsere Infrastruktur für den Erfolg der Schweiz entscheidend sind – die Kosten der Ausgaben werden von den Risiken der Nichtausgaben in den Schatten gestellt». Dass man auch hierzulande dennoch nicht vollkommen vor Überraschungen gefeit ist, zeigte das Beispiel des Gotthard-Strassentunnels, der im September vergangenen Jahres für einige Zeit gesperrt werden musste, nachdem auf einer Länge von 25 Metern sind Stücke der Betondecke auf die Fahrbahn gefallen waren.
Rund 400 Millionen für Brücken und Tunnel
In der Tat lässt sich die Schweiz den Erhalt ihrer Infrastruktur etwas kosten. Dies zeigt der Netzzustandsbericht Nationalstrassen, den das Bundesamt für Strassen ASTRA im September vorgelegt hat: Mehr als 1,2 Milliarden Franken hat der Bund im Jahr 2023 für den Unterhalt der Nationalstrassen ausgegeben. Davon entfielen 238 Millionen auf den Unterhalt von Brücken und anderen Kunstbauten sowie 170 Millionen auf Tunnel.
«Die Nationalstrassen befinden sich heute[…] in einem guten bis zufriedenstellenden Zustand», schreibt ASTRA-Direktor Jürg Röthlisberger im Netzzustandsbericht. Der Bericht belegt diese zurückhaltende Einschätzung mit Zahlen. Das ASTRA bewertet den Zustand der Infrastruktur auf einer Skala von 1 (gut) bis 5 (alarmierend). Während die Strassen insgesamt die selbst gesteckten Qualitätsanforderungen leicht übertreffen, erreichen Brücken und Tunnel die mittlere Zielnote von 1,9 nicht ganz. Die Brücken erhalten die Durchschnittsnote 1,94, die Tunnel nur 2,19. Der Bericht zeigt auch, dass sich der Zustand der Brücken auf den Schweizer Nationalstrassen in den letzten Jahren insgesamt leicht verschlechtert hat. Kein Wunder: Sie sind im Durchschnitt 52 Jahre alt und erfordern daher grössere Massnahmen, um ihre Funktionstüchtigkeit zu gewährleisten. Betrachtet man den Gesamtzustand, müsse den Tunneln und Kunstbauten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, so lautet ein Fazit des Netzzustandsberichts.
Unterhaltsbedarf steigt
Der Bericht nennt zudem Faktoren, die zu einem steigenden Unterhaltsbedarf führen könnten: Erstens führt das steigende Verkehrsaufkommen zu einer zunehmenden Belastung der Infrastruktur. Zweitens nehmen die Schäden durch Naturgefahren infolge des Klimawandels zu. Und drittens ist auch in der Schweiz ein Teil der Infrastruktur in die Jahre gekommen. Eine Reihe älterer Brücken muss demnächst saniert oder ersetzt werden. Aus Sicht unserer Nachbarländer könnte man dies getrost als «Jammern auf hohem Niveau» einordnen. Insgesamt gibt es nur wenige Bauwerke, die in die Zustandsklasse 4 (schlecht) oder 5 (alarmierend) eingestuft werden müssen. «Ebenfalls war die Verkehrssicherheit jederzeit gegeben», heisst es zudem im Netzzustandsbericht.
Beitrag von: Hendrik Thielemann