Champagnertropfen auf den heissen Stein
Wasserstoff könnte eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung spielen – wenn er in grossen Mengen und zu wettbewerbsfähigen Kosten mit regenerativer Energie hergestellt wird. Forschung und Wirtschaft in der Schweiz zeigen Pioniergeist, doch der Weg zur Wasserstoffwirtschaft ist lang und steinig.
Der Parabolspiegel auf dem Campus der EPFL fällt kaum auf. Er sieht aus wie eine gewöhnliche Satellitenschüssel. Doch diese Schüssel ist etwas Besonderes, denn sie ist eine Art künstlicher Baum. Der Spiegel bündelt die Sonnenstrahlen. Im Brennpunkt befindet sich ein integrierter Reaktor. Darin nutzen photoelektrochemische Zellen die Sonnenenergie, um Wassermoleküle durch Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten.
Der künstliche Baum produziert grünen Wasserstoff, ein Schlüsselelement für die Energiewende. Als kohlenstofffreier Brennstoff kann er Fahrzeuge, Schiffe und Flugzeuge antreiben. Er kann dabei helfen, ganze Industrien zu dekarbonisieren, beispielsweise die Stahlproduktion. Und: Wasserstoff kann als Speichermedium dienen, indem regenerativ erzeugter Strom per Elektrolyse zu Wasserstoff «weiterverarbeitet» wird. Mit dem Wasserstoff aus dem künstlichen EPFL-Baum könnte man bei durchschnittlicher Fahrleistung etwa 1,5 Brennstoffzellenautos versorgen. Nicht besonders viel, aber es ist ja auch eine Versuchsanlage. Und dennoch liegt genau hier das Problem. Die industrielle Produktion von grünem Wasserstoff in grossem Massstab steckt noch in den Kinderschuhen.
Grüner Wasserstoff ist rar und teuer
Weniger als ein Prozent des weltweit hergestellten Wasserstoffs stammt derzeit aus regenerativen Quellen. Die Technologie ist vorhanden, doch grüner Wasserstoff ist teuer. So teuer, dass die deutsche Wirtschaftswissenschaftlerin Claudia Kemfert ihn einmal als den «Champagner unter den Energieformen» bezeichnete. Derzeit kostet grüner Wasserstoff etwa drei- bis viermal so viel wie sein klimaschädlich produziertes Pendant, der graue Wasserstoff. Das liegt zum einen daran, dass die zur Herstellung benötigten Elektrolyseanlagen teuer sind, zum anderen an den hohen Kosten für regenerativ hergestellten Strom. Davon benötigt man eine Menge: Um ein Kilogramm Wasserstoff herzustellen, braucht es etwa 60 kWh Strom. Der produzierte Wasserstoff enthält jedoch nur noch 33,3 kWh Energie.
Fachleute gehen davon aus, dass die Kosten für Elektrolyseanlagen und Transport mit zunehmender Skalierung sinken werden. Dann werden vor allem die Kosten für den regenerativ erzeugten Strom den Preis bestimmen. Experten der Unternehmensberatung PwC sagen voraus, dass die Produktionskosten bis 2030 um etwa die Hälfte sinken werden. 2050 werde grüner Wasserstoff nur noch so viel kosten wie heute der graue.
Glaubt man den Experten, wird der Champagner der Energiewende also früher oder später für alle erschwinglich sein. Forschung und Wirtschaft in der Schweiz teilen diese Einschätzung offenbar, denn sie arbeiten mit Hochdruck an Technologie, Infrastruktur und Anwendungen für das Wasserstoffzeitalter. Der künstliche Baum der EPFL ist dafür nur ein Beispiel. Der Energieversorger Axpo will in diesem Jahr mit der Produktion von grünem Wasserstoff an zwei Standorten starten. Eine Anlage am Kraftwerk Reichenau in Donat/Ems soll mit Schweizer Wasserkraft jährlich bis zu 350 Tonnen grünen Wasserstoff produzieren. Das entspricht rund 1,5 Millionen Liter Diesel. Eine zweite, deutlich grössere Anlage mit etwa 15 MW Leistung entsteht derzeit beim Kraftwerk Wildegg-Brugg. Im vergangenen Oktober hat die Groupe E ihren Produktionsstandort in Schiffenen eingeweiht. Zwei weitere Anlagen in Kubel (SG) und in Dietikon (ZH) sind bereits seit 2022 in Betrieb. Insgesamt schätzt die Axpo die Produktionskapazität in der Schweiz per Ende 2023 auf rund 15 MW. Selbst wenn die genannten neuen Anlagen demnächst in Betrieb gehen, ist das nicht viel mehr als ein Champagnertropfen auf den heissen Stein.
Während Forschung und Unternehmen auf dem Weg in die Wasserstoffwirtschaft zumindest Pioniergeist zeigen, geht es in Politik und Verwaltung eher gemächlich zu: Eine nationale Strategie für die Wasserstoffnutzung und den Aufbau der dafür notwendigen Infrastruktur fehlt bisher. Andere Länder sind da weiter. Japan hat bereits 2017 eine nationale Strategie formuliert. Auch die EU, China, Indien und die USA haben ihre Strategien und pumpen Milliarden in die aufstrebende Wasserstoffindustrie.
Energiedirektoren werden ungeduldig
In einem Brandbrief forderte die Konferenz Kantonaler Energiedirektoren den Bundesrat im Sommer vergangenen Jahres deshalb auf, so schnell wie möglich eine Wasserstoffstrategie zu verabschieden. Damit ein Wasserstoffmarkt in der Schweiz entstehen könne, benötigten potenzielle Investoren eine verlässliche Politik und Planungssicherheit. Es gelte nun, beim Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur nicht noch mehr wertvolle Zeit zu verlieren, heisst es in dem Schreiben. Neben den erforderlichen Weichenstellungen für den Aufbau einer Wasserstoff- und Transportinfrastruktur sei vor allem der Anschluss an das europäische Wasserstoff-Transportnetz von zentraler Bedeutung, denn es sei absehbar, dass die inländische Wasserstoffproduktion den Bedarf in der Schweiz nicht abdecken könne. Ohne ein Energieabkommen zwischen der Schweiz und der EU könnte die Schweiz von einem zukünftigen europäischen Wasserstoffnetz abgekoppelt werden.
Gestützt auf einen im November verabschiedeten Postulatsbericht will der Bundesrat in der zweiten Jahreshälfte 2024 eine Wasserstoffstrategie vorlegen. Dazu, so heisst es in einer Mitteilung des Bundesrats, würden weitere Rahmenbedingungen geprüft, mit denen der Aufbau eines Wasserstoffmarktes in der Schweiz unterstützt werden kann, so etwa auch die Sicherstellung der Anbindung der Schweiz an das künftige europäische Wasserstoffnetz.
Beitrag von: Hendrik Thielemann
Bildquelle: Mercedes-Benz